Steinkirchen, St. Nicolai et St. Martini

Orgel von Arp Schnitger (1687)

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Im Jahre 1687 vollendete Arp Schnitger seinen Orgelneubau in Steinkirchen, bei dem er auch älteres Pfeifenmaterial (16. Jahrhundert) verwendete. Die Orgel wurde im Laufe der Jahrhunderte im Vergleich zu manch anderem Schnitgerschen Instrument relativ wenig verändert. 1947/48 und 1987/91 führte Rudolf von Beckerath (Hamburg) Restaurierungs-arbeiten durch.
In 2012 werden Restaurierungsarbeiten an der Orgel von Rowan West (Altenahr) durchgeführt. Die Technik und Intonation der Orgel wird in allen Teilen überprüft und wo notwendig, behutsam verbessert und sie erhält eine der Schnitger-Zeit adäquate Stimmung.

Steinkirchen, Hauptort der ersten Meile des Alten Landes (des Gebietes zwischen den Flüssen Schwinge und Lühe), gehört zu den ältesten Orten der Elbmarsch. Unter dem Bremer Erzbischof Friedrich I. (1104-23) wurde hier und in Ditterschop (Hollern) mit der Kolonisation durch holländische Einwanderer begonnen. Zur gleichen Zeit dürfte die erste Kirche des im Mittelalter beliebten Wallfahrtsortes gebaut worden sein.

 

Die heutige Kirche in Form eines Backsteinsaales mit polygonalem Chor entstand um 1500 und wurde 1773 vor allem bezüglich des Interieurs grundlegend dem Zeitgeschmack angepasst. Dabei wurde die 1687 vollendete Schnitger-Orgel übernommen und u.a. durch einen auf Holz gemalten illusionistischen Holzvorhang oberhalb des Prospektes in die Neukonzeption einbezogen.

 

Die Geschichte der Orgel nimmt ihren Ausgang im beginnenden 16. Jahrhundert. Ein uns unbekannter Orgelbauer errichtete eine kleine Orgel mit wenigen Registern an der Nordwand der Kirche in der Nähe des Altars. Noch heute sind vier Register ganz oder z.T. aus dieser Orgel im Hauptwerk vorhanden. Die Pfeifen der Octav 4’ weisen gotische Schriftzeichen auf.

Im Jahre 1581 wurde Dirck Hoyer (Hamburg), der Schwiegersohn Jacob Scherers beauftragt, das alte Orgelwerk um ein zweites Manual zu erweitern. Noch heute sind aus dieser Orgel Pfeifen im Hauptwerk und im Brustwerk erhalten. Der Kontrakt dieser Orgelbaumaßnahme ist noch vorhanden und gilt als eines der ältesten Orgelbauschriftstücke im Alten Land. Die Orgel von Hoyer hatte einen Tonumfang von F-g², a².

 

1685 wurde Arp Schnitger (Hamburg) beauftragt, auf der damals errichteten Westempore ein neues Orgelwerk zu bauen. Schnitger errichtete ein Instrument mit Hauptwerk, Brustwerk und Pedalwerk in seitlichen Türmen mit 28 Registern, in das er sechs Register aus dem 16. Jahrhundert integrierte. Das Instrument wurde von Schnitger 1687 feriggestellt.

1704 führte die Werkstatt von Arp Schnitger eine Reparatur durch. Hierbei wurde möglicherweise die Disposition des Brustwerks wohlmöglich verändert und ein1 ½‘-Register gegen die Quinte 3‘ ersetzt.

1763 reparierte Johann Matthias Schreiber (Glückstadt)die Orgel. Schreiber hatte die Orgel im benachbarten Mittelnkirchen grundlegend neu gestaltet.

Während des Umbaus der Kirche werden Gipsgardinen über der Orgel angebracht und der Stader Orgelbauer Georg Wilhelm Wilhelmy führte im Jahre 1775 Reparaturarbeiten aus. Dabei ersetzte er u.a. Gedact 8’ im Pedal durch Octav 8’ und richtet ein Sperrventil für das Pedal ein.

 

Im 19. Jahrhundert waren Philipp Furtwängler (Elze) und die Stader Orgelbauer Johann Hinrich und Heinrich Röver an der Orgel tätig, wobei die Balganlage durch Röver ersetzt wurde und wenige Pfeifenreihen ganz oder teilweise verloren gingen.

1909 ersetzte Heinrich Röver (Stade) bis auf 5 Holzpfeifen (C-G) Schnitgers Holzpfeifen des Gedackt 8’ im Brustwerk durch Metallpfeifen.

1947/48 arbeitete Rudolf von Beckerath an der Orgel. Dies geschah mit großem Respekt vor der Orgelbaukunst Schnitgers. Somit blieb dieses Instrument in seiner Klanglichkeit sehr gut erhalten und von einschneidenden Änderungen verschont.

1987 und 1991 wurde die Orgel ein weiteres Mal durch von Beckerath restauriert, verschwundene Register und Balganlage rekonstruiert und die alten Klaviaturen wieder eingebaut.

Da sich einige Restaurierungsmaßnahmen der Arbeiten von 1987/91 als nicht dauerhaft erwiesen, mussten in der Zeit von September 2011 bis Juni 2012 erneut einige den Zustand stabilisierende Maßnahmen vorgenommen werden. Diese Arbeiten wurden von Rowan West (Altenahr) durchgeführt. West ersetzte außerdem die Mixtur im Hauptwerk und arbeitete die neue Cimbel um. Die historischen Pfeifen der Mixtur stammten aus einer Zeit vor Schnitger, und fügten sich nach im Laufe der Zeit vorgenommenen Veränderungen nicht in das Klangbild Schnitgers ein. (Die entnommenen Pfeifen wurden dokumentiert und sind nun in der Orgel gelagert).

Die Intonation der Orgel wurde in allen Teilen überprüft und wo notwendig, behutsam verbessert und sie erhielt eine historische Stimmung. Diese Stimmung fand sich an den zugelöteten gedeckten Pfeifen (Quintadena/Rohrflöte) des Hauptwerks wieder und geht wohl auf Georg Wilhelm Wilhelmy (1775) zurück.


Anm.:
originale Schreibweise der Register in der Einheit Fuß (’).
Anzahl der Pfeifenreihen gemischter Stimmen in römischen Zahlen.

Disposition:

(28 / HW/BW/Ped)

Hauptwerk

Brustwerk

Pedal

 

Principal

Quintadena

Rohr Flöt

Octave

Nassat

Octave

Gemshorn

Sexquialtera

Mixtur

Cimbel

Trompet

8

16

8

4

3

2

2

II

IV–VI

III

8

 

S

H/S

+/S (*1)

+

+/S (*1)

+

S

S

RW (*2)

B/RW

S

Gedact

Rohr-Flöth

Quinte

Octave

Spitz-Flöth

Tertzian

Scharff

Krumphorn

8

4

3

2

2

II

III–V

8

 

S/B

S

++ (*3)

S

S

S/B

S

S/H (*4)

Principal

Octav

Octav

Nachthorn

Rausch-Pfeiffe

Mixtur

Posaun

Trompet

Cornett

16

8

4

2

II

IV–V

16

8

2

 

S

W

S

B

S/B

S/B

S

S

S/B

 


Pfeifenmaterial:

 

+

H

S

++

W

B

RW

=

=

=

=

=

=

=

1. Hälfte 16. Jhd.

1581

1687

nach 1687

1775

1987/1991

2012

vor Hoyer (1. Hälfte 16. Jh.)

Dirck Hoyer (1581)

Arp Schnitger (1687)

Werkstatt Schnitger (nach 1687)

Georg Wilhelm Wilhelmy (1775)

Rudolf von Beckerath (1987/1991)

Rowan West

 


Technische Angaben:

 

Manualumfang:

Pedalumfang:

Winddruck:

Tonhöhe:

Stimmung:

Koppeln:

Zimbelsterne:

Tremulant

C, D, E, F, G, A – c'''

C, D, E – d'

72mmWS

3/4Ton über normal (483 Hz bei 16 °C)

ungleichschwebend

Manualschiebekoppel

W


(*1)

Rohrflöte 8‘ (HW)

Bisher wurde als Erbauer der Rohrflöte 8‘ Dirck Hoyer benannt. Die Bauart dieser Pfeifen ist aber vergleichbar mit den Pfeifen der beiden spätgotischen Register Octave 4‘ und 2‘ (HW). Auffällig sind die dicken, wulstigen Stütznähte zu beiden Seiten des Labiums und die schweren dickwandigen Bleipfeifen.

 

Nassat 3‘ (HW)

Bisher wurde angenommen, dass beim Umbau der frühen Orgel aus dem 16. Jahrhundert die Pfeifen des Nassat 3‘ von Hoyer 1581 neu gebaut wurden.

Es stellt sich nun heraus, dass auch diese Pfeifen bis g° der Bauart der beiden spätgotischen Register Octave 4‘ und 2‘ (HW) gleichen. Auffällig sind die dicken, wulstigen Stütznähte zu beiden Seiten des Labiums. Ebenfalls weisen diese Pfeifen Signaturen auf, die denen von Octave 4‘ und 2‘ gleichen.

Erst ab gis° finden sich Schnitgerpfeifen. Es handelt sich wohl um ein von Schnitger umgebautes 4‘-Register aus spätgotischer Zeit.

 

(*2)

Mixtur (HW)

Die Untersuchung an diesem Register ergab, dass es in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, also vor Schnitger erbaut wurde. Es sind sehr hoch aufgeschnittene Pfeifen und die Zusammenstellung der Mixtur liegt sehr hoch. Der fast flötige Klang mischte sich sehr schlecht mit dem anderen Pfeifenbestand. Dadurch wurde diese Mixtur als Fremdkörper in der jetzigen akustischen Situation der Kirche empfunden.

Es wurde vom Sachverständigenausschuss und Orgelbauer West beschlossen, diese Pfeifen zu dokumentieren und in der Orgel einzulagern, damit der derzeitige ungeklärte Zustand des Registers erhalten bleibt und nicht durch weitere restaurative Maßnahmen alte Arbeits- und Intonationsspuren verwischt werden.

Die Mixtur wurde nun rekonstruiert und dem Pfeifenbestand Schnitgers in Intonation und Klangstärke angenähert.

Dieser Zustand ist jederzeit reversibel. Sollten sich neue Erkenntnisse über die alte Mixtur aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts ergeben, könnte diese restauriert und wieder eingebaut werden.

 

(*3)

Quinte 3' (BW)

Dieses Register wurde bisher als „nach Schnitger“ zugeordnet.

Die Pfeifen stammen aber aus der Werkstatt Schnitgers. Die Inskriptionen sind diejenigen Schnitgers, jedoch scheinen die Pfeifen aus einer späteren Bauphase zu stammen.
Die tiefe Pfeife C weist die Inschrift auf: Hohl Qvinta 3‘

Das Register steht an der Stelle, wo eigentlich die sonst von Schnitger disponierte NassatQuint 1 ½‘ stehen würde.

Also ist die Reihenfolge der Register auf der Windlade (von vorn nach hinten):

Krumphorn 8‘ – Scharff – Tertian – Quinte 3‘ –  Spitz-Flöth 2' – Octave 2‘ – Rohr-Flöth 4‘ – Gedact 8‘

 

(*4)

Krumphorn 8'

Das Register wurde bisher Dirck Hoyer zugeordnet. Es wurde aber neu von Schnitger gemacht (1687). Lediglich die Kehlen der Pfeifen von F bis c‘‘‘ sind noch von Hoyer (1581).

 

Temperatur / Stimmungssystem

Bei den Arbeiten im Mai 2012 wurde nun eine ungleichschwebende Stimmung gelegt.

Beim Einstimmen der Temperatur wurde festgestellt, dass an den zugelöteten gedackten Pfeifen (Quintadena und  Rohrflöte im HW) nahezu keine Änderungen vorgenommen werden mussten. Außerdem weisen diese beiden Register Veränderungen in der Länge auf, die aus älterer Zeit stammen. So kann man davon ausgehen, dass Georg Wilhelm Wilhelmy 1775 die Schnitger-Orgel in diese oder sehr ähnliche Temperatur eingestimmt hat.

Diese ungleichschwebende Stimmung erforderte nur wenige Änderungen durch Anlängungen an originalen Pfeifen.

 

Martin Böcker, Stade

Bau-/Restaurierungsgeschichte

1581

Vertrag mit Dirk Hoyer (Hamburg) wegen der Verbesserung und Erweiterung der einmanualigen Orgel (Tonumfang F – g’’, a’’). Es handelt sich um das älteste erhaltene Orgelbauschriftstück des Alten Landes.

 

 

1685/87

Neubau durch Arp Schnitger: Sechs alte Register werden wieder verwendet.

 

 

1704

Reparatur durch Arp Schnitger.

 

 

1763

Reparatur durch Johann Matthias Schreiber (Glückstadt).

 

 

1773

Anbringen der Gipsgardinen über der Orgel.

 

 

1775

Überholung durch Georg Wilhelm Wilhelmy (Stade): dabei Einbau eines Sperrventils für das Pedal und Auswechseln des Gedackt 8’ im Pedal gegen eine Oktave 8’.

 

 

1843

„Grundreparatur“ durch Philipp Furtwängler (Elze).

 

 

1893

Einbau eines Magazinbalgs durch Heinrich Röver (Stade).

 

 

1909

Bis auf fünf Holzpfeifen (C – G) ersetzt Heinrich Röver (Stade) Schnitgers Holzpfeifen des Gedackt 8’ durch Metallpfeifen.

 

 

1947/48

Restaurierung durch Rudolf von Beckerath (Hamburg).

 

 

1987

Erneute Restaurierung durch Rudolf von Beckerath (Hamburg): dabei Wiedereinbau der originalen Schnitger Manualklaviaturen und Rekonstruktion der Balganlage.

 

 

2012

Restaurierung durch Rowan West (Altenahr): unter anderem wird eine neue Mixtur im Hauptwerk eingebaut und der Winddruck verringert. Außerdem kommt es zur Anpassung der Stimmung und neue Bestimmung des Alters der Pfeifen.

 


(Stand 25.02.2022; Literatur und Quellen: Denkmalorgeln zwischen Elbe und Weser, Orgeln in Nieder-sachsen, Disposition lt. Konzert 18.05.2012)

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